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Wenn ein Mensch stirbt, bleibt vieles unausgesprochen – auch, wenn eigentlich alles gesagt ist.

Mein Vater starb am 1. Weihnachtsfeiertag. Anfang Dezember wurde festgestellt, dass er Krebs hatte und dann ging irgendwie alles ganz schnell. Und trotzdem schien manchmal die Zeit still zu stehen. Ich war gerade Anfang 30 und mit meinem ersten Kind im 5. Monat schwanger. Plötzlich war die Vorfreude, die uns die Wochen zuvor euphorisch planen ließ, zwar nicht weg aber irgendwie eingefroren.

Wenige Tage vor seinem Tod meinte mein Vater noch zu mir:

„Bis zur Geburt schaffe ich es.“

Wir hatten um den 4. Advent herum alle noch die Hoffnung, dass mein Vater nach den Feiertagen mit der Chemo anfangen könne, alles schon irgendwie „wieder gut“ würde. Dann: Krankenhaus, Palliativ, Ende. Er hätte eine Dialyse gebraucht, die er wegen der Krebserkrankung nicht haben konnte und eine Chemo, die ohne Dialyse nicht möglich war. An Heilig Abend wollte ich, obwohl oder gerade weil ich wusste, dass es keine Heilung geben wird, noch mit ihm auf Weihnachten und die baldige Geburt seines Enkelkindes anstoßen. Wegen seines Allgemeinzustands hatte ich mich für alkoholfreien Sekt entschieden. Papa wollte nicht mehr. Stattdessen gingen mein Mann und meine Mutter vor die Türe, weil es ein paar Dinge zu regeln gab, die wir alleine besprechen wollten. Am nächsten Tag bekam mein Vater Morphium gegen die Schmerzen und war ab diesem Zeitpunkt kaum bis garnicht mehr ansprechbar. Er hatte sich in eine andere Welt zurückgezogen, welche Rolle wir da spielten, weiß ich nicht.

Der Fall der Fälle war geregelt.

Nur leider hatten wir das Update nicht vollständig geladen.

Das Meiste war für den Fall der Fälle schon lange im Vorfeld bereits geregelt. Die Patientenverfügung ermöglichte meinem Vater einen selbstbestimmten und weitestgehend schmerzfreien Tod. Von dieser Seite her hätten wir also, anders als ich es von anderen mitbekomme, nicht all zu viel mehr Zeit gebraucht, um es zu aktualisieren. Die Probleme, die uns im Rahmen des Erbfalls dann trafen, hätten – sofern sie uns bewusst gewesen wären – in wenigen Tagen gelöst werden können. Darum an dieser Stelle mein friendly reminder: Selbst wenn Du, Deine Familie und Deine Freunde Vorsorge getroffen habt, überprüft doch immer wieder, ob alles wirklich vollständig und noch aktuell ist. Das erspart einem in einer Zeit, in der man genug mit seiner frischen Trauer zu kämpfen hat, so manchen Ärger, Aufwand und letztendlich auch Geld.

In der alten Zeitrechnung habe ich alles gesagt.

In der neuen muss vieles unausgesprochen bleiben.

Ich habe Papa immer gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Wir hatten ein sehr enges, tiefes Verhältnis. Daher kann ich nicht behaupten, dass noch so viel unausgesprochen geblieben wäre. Trotzdem wäre mit ihm mein Leben ab diesem Zeitpunkt ganz anders verlaufen. Das habe ich mir oft gedacht. Vermutlich hätte ich manches nicht gewagt, dafür andere Dinge getan, die mir jetzt überhaupt nicht in den Sinn kämen. Aber egal was gekommen wäre: Wir hätten sicherlich noch unzählige unserer legendären Vater-Tochter-Gespräche geführt, die mir so furchtbar fehlen. Ich hätte von einem Menschen, den ich noch heute bedingungslos liebe und der zugleich nicht mein Partner ist, Impulse erhalten oder auch mal die Meinung gegeigt bekommen.

Als mein Vater seinen letzten Atemzug tat, hatte ich ihm also gar nicht so viel zu sagen. Außer dass ich ihn liebe und ich traurig bin, dass er und mein Kind sich nie auf dieser Erde kennenlernen werden. Die Gründe, weshalb ich mir wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, ergaben sich erst in den letzten Jahren. Als sich die Erlebnisse häuften, bei denen er nicht dabei war. Und als mir immer bewusster wurde, wie sehr mir seine Meinung fehlt. Seine Nähe. Und, um ehrlich zu sein, auch die Diskussionen und der Streit, der unvermeidbar ist, wenn zwei Dickköpfe wie wir unterschiedliche Ansichten zu einer Sache vertreten. Ab einem gewissen Zeitpunkt in meinem Leben konnten wir hervorragend streiten. Und am Schluss saßen wir nicht selten lachend in einer Bar und tranken Whisky. Okay, auch ohne Streit haben wir wundervolle Abende miteinander verbracht. Ohne außer Acht zu lassen, dass er mein Vater und gerade kein Freund war, war er mein Partner in Crime. Und egal wie viel Zeit vergeht, dies und er fehlen einfach.

Mit der Volljährigkeit ist man nicht automatisch erwachsen.

Man entwickelt sich weiter und freut sich noch immer,

wenn die Eltern stolz auf einen sind.

Ein weiterer Grund, weshalb ich mir wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt: Ich würde meinem Vater so gerne zeigen, was aus mir geworden ist. Kurz nach seinem Tod wurde ich Mutter. Zuvor bestand mein Leben aus einer Mischung aus Selbstfindung, mich ausprobieren und dem Versuch herauszufinden, was beruflich wohl das Richtige für mich sein könnte. Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung gemacht, ein Jahr gearbeitet und dann etwas komplett anderes studiert. Immer in der Annahme, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich habe mich von meinem damaligen langjährigen Partner getrennt und (für viele Hals über Kopf) meinen besten Freund geheiratet, den ich nun schon über die Hälfte meines Lebens kenne. Das war übrigens eine meiner besten Entscheidungen im Leben. All das hat mein Vater miterlebt. Höhen wie Tiefen. Auch, dass ich meinen beruflichen Weg noch immer nicht gefunden hatte. Wenngleich mein Mann und ich uns stets einig waren, dass ich (solange dies finanziell stemmbar ist) bis zum Kindergartenalter der Kids zuhause bleibe, hatte ich nie vor Vollzeithausfrau zu werden. Aus geplanten drei wurden nun sieben Jahre. Sieben Jahre, die ich mit meinen Kindern genießen konnte. Zugleich habe ich mich weiter in verschiedenen Richtungen fortgebildet und noch einmal komplett neu orientiert. Veränderung, so habe ich gelernt, ist ein Teil von mir. Anfang 2023 stehe ich in den Startlöchern zur Freiberuflichkeit – etwas, das ich mir früher, obwohl ich zwischenzeitlich sogar mal kurz Geschäftsführerin eines Fotostudios war, nie hätte vorstellen können. Was jetzt ist macht mich so stolz und glücklich, dass ich es meinem Vater einfach gerne erzählen, zeigen und ihn in manchen Dingen auch um Rat fragen möchte.

Geht nur nicht, denn genau dafür haben wir eben keine Zeit mehr gehabt.

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